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Rezension: Michael Andrick „Im Moralgefängnis – Spaltung verstehen und überwinden“

Andrick stellt Fragen:

Welche Verhaltensweisen und welche psychologischen Mechanismen spielen eine Rolle? Was für eine soziale Dynamik erzeugen diese Faktoren? Was wird unter diesen Umständen mit Absicht getan, was geschieht in der Regel unbewusst oder wird halbbewusst (mit)gemacht? Gibt es typische gedankliche und sprachliche Operationen, die das ungedeihliche Diskussionsklima in Deutschland erklären (und die wir vielleicht auch selbst praktizieren)?

Eine seiner Antworten ist:

Spaltung ist eine Infektion der Kommunikationswege mit dem Virus der Moralisierung. Spaltung entsteht nicht durch die Schuld gewisser Leute mit weit auseinanderliegenden Meinungen oder durch neuartige Kommunikationsplattformen. Spaltung ist ein Gemeinschaftsprodukt vieler Menschen, die bestimmte Umgangsformen pflegen und die so miteinander eine bestimmte Kultur betreiben: Spaltung lebt vom Mitmachen. Und machen genügend Menschen bei spalterischen Praktiken mit, so verformt sich die private und die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft derart, dass ein zwangloser Austausch unterschiedlicher Ansichten zur selben Sache fast unmöglich wird und eine Atmosphäre von Angst und Misstrauen dominiert. Wir sitzen dann in einer selbsterbauten Zwingburg, die ich das Moralgefängnis nenne – auch deshalb, weil wohl jeder am liebsten aus dieser unangenehmen Lage ausbrechen würde.

Andrick schlägt vor:

Wie wäre es, wenn es so etwas wie eine geteilte Krisenerfahrung gäbe, von der alle, die heute zerstritten sind oder sich heikel anschweigen, gemeinsam ausgehen könnten, um einen Neuanfang zu machen?Dieser Gedanke kam mir erstmals, als in Deutschland gerade die Corona-Politik auslief und die Ukraine-Frage in den Mittelpunkt der medialen Aufmerksamkeit rückte. Die schnelle Festlegung auf gewisse Sprachregelungen in den Leitmedien (»tückisches Virus«, »völkerrechtswidriger russischer Angriffskrieg«), das Abkanzeln Andersmeinender mit moralischen Schmähbegriffen (»Corona-Verharmloser«, »Lumpenpazifist«) und das Aufblühen von Kontaktschuld-Vorstellungen (»Wer mit Rechten auf die Straße geht…«, »Putin-Freund Schröder…«) kamen nicht nur mir im Frühjahr 2022 eigenartig bekannt vor.

Andrick resümiert:

Ich komme zu dem Schluss, dass wir mitten in einer schweren Epidemie des Kulturvirus Moralin stecken – und dass die an einer unbehandelten Moralitis leidenden Bürger, zu denen wir durchaus selbst gehören können, sich eine ganz eigene Kultur errichtet haben, die mit einem demokratischen Zusammenleben unvereinbar ist. Diese Kultur, in der spalterisches Handeln vorherrscht, nenne ich das Regime des Moralismus. Seine Kennzeichen sind u. a. Verhaltensweisen wie das gegenseitige Abkanzeln, Stigmatisieren und Umstrittenmachen, aber auch gedanken- und sprachpolizeiliche Initiativen und das Operieren mit Kontaktschuldfantasien. Sogar eigene Institutionen hat das Regime des Moralismus sich erfunden, darunter »Faktenchecker« und staatliche Gesinnungsmeldestellen. Nicht mehr freiheitliche Politik – d. h. der Interessenausgleich von Andersdenkenden unter Bedingungen bürgerlicher Gleichheit – steht im Zentrum dieser Kultur, sondern die dringend empfundene Pflicht, die Wahrheit gegen den Irrtum durchzusetzen. So entsteht ein von Ausschlussangst und Paranoia geprägtes Diskussionsklima, das den Werten einer freiheitlich-demokratischen Ordnung Hohn spricht und sie jeden Tag aufs Neue auch emotional unglaubwürdig macht. Das Regime des Moralismus erlaubt es nicht, in demokratischem Geist zusammenzuleben. Mit ihm erbauen wir das Moralgefängnis, in dem wir jetzt einsitzen.

 

Michael Andrick, Westend Verlag, 160 Seiten, ISBN 9783864894381